WSWS : WSWS/DE : Marxismus
: DownloadVorlesung von David North
Zwei politische Problemstellungen oder »Fragen« boten in der Geschichte der
marxistischen Bewegung der letzten hundert Jahre mit großer Beständigkeit immer wieder
Anlaß zu Auseinandersetzungen: die »nationale Frage« und die »Gewerkschaftsfrage«.
Wo liegt der Grund für die Hartnäckigkeit dieser beiden Probleme, und besteht ein
Zusammenhang zwischen ihnen? Meiner Meinung nach liegt die Antwort in den historischen
Umständen, unter denen die moderne Arbeiterbewegung entstand. Der bürgerliche
Nationalstaat, so wie er aus den revolutionären Kämpfen um Demokratie im 18. und 19.
Jahrhundert hervorging, lieferte den ökonomischen Anstoß und den politischen Rahmen für
die Entwicklung der europäischen und amerikanischen Arbeiterklasse. Die Festigung der
Nationen hing, wenn auch in verschiedenen Formen und in unterschiedlichem Maße, mit
allgemeinen Fragen der Demokratie zusammen, die für die Arbeiterklasse sehr wichtig
waren.
Die Haltung der Arbeiterklasse gegenüber der Nation mußte zwangsläufig einen höchst
komplexen, widersprüchlichen und ambivalenten Charakter annehmen. Auf der einen Seite
hingen das Wachstum der Arbeiterklasse in Größe und Stärke sowie die Erhöhung ihres
Lebensstandards allgemein mit der Festigung des Nationalstaates und mit der Ausdehnung
seiner wirtschaftlichen und industriellen Kraft zusammen. Gleichzeitig rückte die
Arbeiterklasse mit zunehmender Entfaltung ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen
Kämpfe objektiv in eine dem Nationalstaat feindliche Stellung, da dieser letztlich den
Klasseninteressen der Bourgeoisie diente.
Der verhexte Charakter der nationalen Frage innerhalb der marxistischen Bewegung ergab
sich aus der komplexen Beziehung der Arbeiter zum bürgerlichen Nationalstaat. Nirgendwo
in der Welt finden wir ein Beispiel für einen schmerzlosen und organischen Übergang der
Massen von nationalem zu internationalem, sozialistischem Bewußtsein. Die Erfahrungen der
Jugendzeit prägen einen Menschen für sein ganzes Leben. Ein ähnliches Phänomen zeigt
sich bei der historischen Entwicklung des Bewußtseins von Gesellschaftsklassen. Die
historische Bindung der Arbeiterklasse an den Nationalismus erklärt sich aus den
Umständen ihrer Entstehung und ersten Kämpfe. Da das gesellschaftliche Bewußtsein
hinter dem sehr komplexen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Sein zurückbleibt
oder, genauer gesagt, dieses nicht direkt und unmittelbar in wissenschaftlicher
Form widerspiegelt , sinkt der Einfluß des Nationalismus auf die Arbeiterbewegung
verzögert, und nicht direkt proportional zum Anwachsen der objektiven Vorherrschaft der
Weltwirtschaft über den Nationalstaat und zur Internationalisisierung des Klassenkampfs.
Darüber hinaus hat die Fortdauer der nationalen Unterdrückung im 20. Jahrhundert
ungeachtet dessen, daß ihre Ursache und ihr Inhalt im wesentlich ökonomischer
Natur sind die nationalen Bewußtseinsformen verstärkt. Doch trotz der Stärke
nationaler Einflüsse dürfen Marxisten mit ihrem Programm nicht an alte Vorurteile und
überholte Vorstellungen appellieren, sondern müssen von einer wissenschaftlichen Analyse
der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgehen. Die Anpassung des politischen Programms an
die gängigen Vorurteile im Interesse kurzfristiger taktischer Vorteile gehört zu den
häufigsten Merkmalen des Opportunismus, der von unmittelbar praktischen und
konjunkturellen, nicht von prinzipiellen, historischen und wissenschaftlichen
Überlegungen ausgeht.
Die Opportunisten, die die politischen und ökonomischen Folgen der Globalisierung der
Produktion für den Nationalstaat leugnen, schreiben dieser historisch überholten
politischen Form für gewöhnlich ein progressives Potential zu, über das sie gar nicht
verfügt. Sie halten beharrlich die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung aufrecht,
obwohl diese zur Parole jeder reaktionären chauvinistischen Bewegung der Welt geworden
ist.
Marxisten halten den Nationalstaat nicht für bedeutungslos. Obwohl der Nationalstaat
unter dem Gesichtswinkel der globalen Entwicklung und Integration der Produktivkräfte dem
Fortschritt der Menschheit im Wege steht, bleibt er ein starker Faktor in der Weltpolitik.
Die sozialistische Bewegung geht, wenn sie ihre Taktik erarbeitet, über diese politische
Realität nicht hinweg. Die nationale Frage heute sollte man wohl besser vom
»nationalen Problem« sprechen bleibt bestehen, solange der Nationalstaat als eine
politische und ökonomische Grundeinheit der bürgerlichen Gesellschaft bestehen bleibt.
Doch die marxistische Taktik läßt sich von einem wissenschaftlichen Verständnis der
historischen Überholtheit des Nationalstaats leiten. Vermittels ihrer Taktik sucht die
trotzkistische Bewegung die Grundstrategie der Vierten Internationale als Weltpartei der
sozialistischen Revolution zu verwirklichen. Gerade dieses Beharren auf dem Vorrang der
internationalen Strategie unterscheidet das Internationale Komitee der Vierten
Internationale von jeder national-reformistischen und opportunistischen Gruppierung.
Die Auffassungen der kleinbürgerlichen Radikalen
Diese grundsätzlichen Überlegungen stellen sich nicht weniger drängend in Bezug auf
die Gewerkschaftsfrage. Es geht dabei um die Rolle dieser sehr alten proletarischen
Organisationsform in der Entwicklung der revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse um den
Sozialismus. Das moderne Proletariat entstand im Zusammenhang mit der historischen
Entwicklung des Nationalstaats. Die politischen und ökonomischen Prozesse, die dessen
Herausbildung ermöglichten, bildeten schließlich auch die Grundlage für die Entwicklung
der Arbeiterklasse. Ihre Organisationen und deren Tätigkeit nahmen im Rahmen des
Nationalstaates Gestalt an. Dies gilt ganz besonders für die Gewerkschaften, deren
Fortschritte und Wohlergehen in hohem Maße von den industriellen und kommerziellen
Erfolgen »ihres« Nationalstaates abhingen. Genau wie es tiefe objektive Ursachen für
die ambivalente Haltung der Arbeiterklasse zum Nationalstaat gibt, bestehen auch tief
verwurzelte objektive Ursachen für die ambivalente oder sogar feindliche Haltung der
Gewerkschaften gegenüber dem Sozialismus. Über dieses Problem hat die sozialistische
Bewegung seit mehr als hundert Jahren viele Tränen vergossen.
In den Anfangsjahren konnte man natürlich nicht voraussehen, wie schwerwiegend die
Probleme sein würden, die in der Folgezeit die Beziehungen zwischen den revolutionären
marxistischen Parteien und den Gewerkschaften belasten sollten. Die Haltung der Marxisten
gegenüber den Gewerkschaften widerspiegelte unweigerlich die Umstände und Bedingungen
der jeweiligen Zeit. Die Gewerkschaftsfrage stellt sich 1998 nicht in derselben Weise, wie
1847. In den letzten 151 Jahren ist eine Menge passiert, und die sozialistische Bewegung
hatte hinreichend Gelegenheit, mit dem Gewerkschaftertum Bekanntschaft zu machen. Sie hat
viel über den Charakter der Gewerkschaften gelernt, obwohl man auf den Seiten der
»linken« radikalen Presse keine Spur dieses angesammelten Wissensschatzes finden kann.
Über weite Perioden ihrer Geschichte hinweg hat die sozialistische Bewegung die
Gewerkschaften heiß umworben. Doch obwohl sie ihnen eifrig den Hof machte, blieb die
Romanze recht erfolglos. Trotz unzähliger Bekenntnisse der Zuneigung und Hingabe sind die
sozialistischen Werber vom Objekt ihrer Begierde immer wieder ins Gesicht getreten oder
sogar meuchlings erdolcht worden. Selbst wenn die Sozialisten eigene Gewerkschaften ins
Leben riefen und ihnen eine einwandfreie marxistische Erziehung angedeihen ließen,
lohnten es ihnen die Sprößlinge mit schnödem Undank. Bei der erstbesten Gelegenheit
verschmähten sie die hohen Ideale ihrer sozialistischen Erzeuger, um sich an den
Fleischtrögen des Kapitalismus zu laben.
Man sollte meinen, daß es aus so vielen schlechten Erfahrungen etwas zu lernen gäbe.
Aber wie die alten Narren in den Erzählungen Boccaccios brennen die ergrauten, zahnlosen
Radikalen von heute geradezu darauf, sich immer wieder Hörner aufsetzen zu lassen. Viele
»linke« Organisationen von heute bestehen immer noch darauf, daß es die Pflicht der
sozialistischen Bewegung sei, sich getreulich um alle Launen und Wehwehchen der
Gewerkschaften zu kümmern. Sozialisten, erklären sie, müssen die Gewerkschaften als die
Arbeiterorganisationen anerkennen, als die den gesellschaftlichen Interessen der
Arbeiterklasse entsprechende Organisationsform. Die Gewerkschaften, argumentieren sie,
stellen die authentische und unangreifbare Führung der Arbeiterklasse dar sie sind
die wichtigsten, ausschlaggebenden Richter über ihr historisches Schicksal. Die
Autorität der Gewerkschaften über die Arbeiterklasse herauszufordern, in irgend einer
Hinsicht das angeblich »natürliche« Recht der Gewerkschaften auf die Vertretung der
Arbeiterklasse in Frage zu stellen, kommt einem politischen Sakrileg gleich. Es ist
unmöglich, behaupten die Radikalen, sich eine wahrhafte Arbeiterbewegung vorzustellen,
die nicht von den Gewerkschaften dominiert, wenn nicht offiziell geführt wird. Nur auf
der Grundlage der Gewerkschaften kann der Klassenkampf effektiv geführt werden. Und
schließlich hängt jede verbliebene Hoffnung auf die Entstehung einer sozialistischen
Massenbewegung davon ab, die Gewerkschaften, oder zumindest einen ansehnlichen Teil von
ihnen, für eine sozialistische Perspektive zu »gewinnen«.
Um es ungeschminkt zu sagen, das Internationale Komitee weist jede einzelne dieser
Ansichten zurück. Sie werden sowohl von der theoretischen Analyse, als auch von der
historischen Erfahrung widerlegt. In den Augen unserer politischen Gegner kommt unsere
Weigerung, die Autorität der Gewerkschaften anzuerkennen, einer Majestätsbeleidigung
gleich. Das rührt uns nicht besonders, denn wir haben uns im Laufe der Jahrzehnte nicht
nur daran gewöhnt, im Gegensatz zur »linken« oder um genauer zu sein
kleinbürgerlichen öffentlichen Meinung zu stehen, wir erachten deren erbitterte
Abneigung auch für das sicherste Anzeichen dafür, daß sich das Internationale Komitee
auf dem richtigen Weg befindet.
Die Position der Radikalen beruht auf einer Grundannahme: aufgrund der Zusammensetzung
ihrer Massenmitgliedschaft seien die Gewerkschaften »Arbeiterorganisationen«. Wer also
die Autorität der Gewerkschaften herausfordert, stellt sich per definitionem in Gegensatz
zur Arbeiterklasse. Leider reduziert diese Voraussetzung die Gewerkschaften auf leere,
ahistorische Abstraktionen. Es stimmt zweifellos, daß die Gewerkschaften über viele
Mitglieder aus der Arbeiterklasse verfügen. Aber das gilt auch für viele andere
Organisationen, in den Vereinigten Staaten etwa für den Tierschutzverein, die Freimaurer,
die Kriegsveteranen und die katholische Kirche.
Der Hinweis auf die vielen Arbeiter, die Mitglieder der Gewerkschaften sind, ist
darüber hinaus kein Ersatz für eine sorgfältigere Analyse der sozialen Zusammensetzung
dieser Organisationen, insbesondere ihrer Führungsschichten d.h. der Bürokratien.
Aus der Massenmitgliedschaft von Arbeitern folgt nicht automatisch, daß die
Gewerkschaften in deren Interesse handeln. Man muß vielmehr untersuchen, ob es innerhalb
der Gewerkschaften einen objektiven Gegensatz zwischen den Interessen der Mitgliedermassen
und der leitenden Bürokratie gibt, und in welchem Maße die Politik der Gewerkschaften
nicht die Interessen der ersteren, sondern der letzteren vertritt.
Selbst wenn man einräumt, daß die Gewerkschaften »Arbeiterorganisationen« sind,
bereichert diese Definition schwerlich unser politisches Wissen. Wir könnten das
Definitionsspielchen dann weitertreiben und fragen: »Und was genau ist eine
Arbeiterorganisation?« Die Antwort »Eine Organisation von Arbeitern!« dürfte kaum
befriedigen. Um das Wesen der Gewerkschaften zu verstehen, muß vielmehr die Frage
gestellt werden: »In welcher Beziehung stehen diese Organisationen zum Klassenkampf im
allgemeinen und zur Befreiung der Arbeiter von kapitalistischer Ausbeutung im
besonderen?«
An diesem Punkt wird es notwendig, über inhaltsleere Terminologie hinaus eine tiefere
Definition herauszuarbeiten, die von einer genauen historischen Analyse der Rolle der
Gewerkschaften in den Kämpfen der Arbeiterklasse und der sozialistischen Bewegung
ausgeht. Der Zweck einer solchen Analyse besteht nicht einfach darin, je nach Standpunkt
Beweise für ihre Verbrechen oder Errungenschaften zu sammeln. Vielmehr muß man das Wesen
dieser gesellschaftlichen Erscheinung aufdecken, d. h. die tieferen Gesetze, deren
operativen und praktischen Ausdruck das Handeln und die Politik der Gewerkschaften
darstellen.
Unsere radikalen Gegner haben noch nicht einmal versucht, eine solche Analyse
vorzunehmen, und können deshalb nicht ansatzweise eine ernsthafte Antwort auf die
elementarste und offenkundigste Frage geben: »Weshalb sind die Gewerkschaften so
jämmerlich gescheitert, als es um die Verteidigung, von einer Erhöhung ganz zu
schweigen, des Lebensstandards der Arbeiter ging?« Nicht nur in den Vereinigten Staaten,
sondern auf der ganzen Welt sank im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts die
gesellschaftliche Stellung der Arbeiterklasse stark ab. Die Gewerkschaften erwiesen sich
als unfähig, die Arbeiterklasse gegen die Angriffe des Kapitals zu verteidigen. Insofern
dieses Scheitern über mehrere Jahrzehnte hinweg auf internationaler Ebene beobachtet
werden kann, muß man unweigerlich nach seinen objektiven Ursachen suchen sowohl in
der sozialökonomischen Umgebung, in der die Gewerkschaften heute existieren, als auch
grundlegender im wesentlichen Charakter der Gewerkschaften selbst. Wenn man davon ausgeht,
daß das Umfeld, in dem die Gewerkschaften wirkten, nach 1973 plötzlich feindlich wurde,
so muß man die Frage stellen, weshalb die Gewerkschaften dieser Veränderung gegenüber
so verletzbar waren und weshalb sie derart unfähig waren, sich auf die neuen Bedingungen
einzustellen.
Wir wollen die Antwort der Spartacist League auf dieses Problem betrachten. Im Verlaufe
einer wütenden Verurteilung der Socialist Equality Party die sich über vier
Ausgaben ihrer Zeitung und Tausende von Worten erstreckt, die zu einem außerordentlich
hohen Prozentsatz Beschimpfungen sind bestreiten die Spartacist-Leute energisch,
daß es irgend welche objektiven Ursachen für das Scheitern der Gewerkschaften gebe.
Alles wird mit »der defätistischen und verräterischen Politik der AFL-CIO-Irreführer«
erklärt. Eine banalere Erklärung könnte man sich kaum vorstellen. Ein Paläontologe
könnte genau so gut behaupten, daß die Dinosaurier ausgestorben seien, weil sie des
Lebens einfach überdrüssig waren! Die Spartacist-Leute erklären nicht, weshalb sich die
Dinosaurier in der Führung des AFL-CIO überhaupt für eine »defätistische und
verräterische Politik« entschieden haben. Einfach deshalb, weil es schlechte Menschen
sind? Und wenn es tatsächlich schlechte Menschen sind, weshalb häufen sich diese dann
ausgerechnet in der Gewerkschaftsführung, nicht nur in Amerika, sondern rund um die Welt?
Gibt es etwas im Charakter der Gewerkschaften, das so viele schlechte Menschen anlockt,
die dann eine »defätistische und verräterische Politik« betreiben? Wir könnten noch
eine weitere Frage stellen: Welche eigenen Eigenschaften veranlassen die Spartacist
League, begeistert Organisationen zu unterstützen, die in großer Anzahl schlechte
Menschen anlocken, die wiederum die Arbeiter verraten und ausverkaufen, die sie zu
vertreten vorgeben?
Gegen eine subjektive Herangehensweise spricht nicht nur, daß sie allen tatsächlich
schwierigen Fragen aus dem Weg geht, sondern auch, daß sie der Spartacist League und den
anderen radikalen Gruppen gestattet, ungeachtet ihrer verbalen Attacken die Möglichkeit
einer Bekehrung der »Irreführer« offenzulassen. Auf dieser Grundlage stimmen sie der
fortdauernden Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Gewerkschaften und damit letztlich
unter eben diese »Irreführer« zu.
Dezidiert ausgesprochen wird diese Perspektive in einem Artikel von
Peter Taaffe, dem wichtigsten Führer der britischen Socialist Party, der früheren
Militant-Tendenz.0 Herrn Taaffes Versuche, seine
Unterwürfigkeit gegenüber der Gewerkschaftsbürokratie mit radikalen Phrasen zu
bemänteln, wirken eher erheiternd als überzeugend. Er führt anfangs eine kurze Liste
von Ländern an, in denen die Gewerkschaftsfunktionäre besonders wüste Verrätereien an
der Arbeiterklasse begangen haben. Wie Polizeichef Louis in »Casablanca« zeigt sich
Taaffe zutiefst, ja bis ins Innerste erschüttert über die allgegenwärtige Korruption
während die politischen Bestechungsgelder der Bürokratie in seine Taschen
wandern. Die Rolle der schwedischen Gewerkschaftsfunktionäre, sagt uns Taaffe, war
»skandalös«. Das Verhalten der belgischen Bürokratien ist »ungeniert und offen«.
Auch die irischen Vorsitzenden bieten uns ein »skandalöses Schauspiel« des Verrats. In
Britannien, so Taaffe, hätten die Arbeiter »die Ohnmacht ihrer rechten Führer teuer
bezahlt«. Mit Bedauern vermerkt er außerdem die Kapitulation der Gewerkschaftsführer in
Brasilien, Griechenland und den Vereinigten Staaten.
Aber für Taaffe besteht das Problem der Gewerkschaften im wesentlichen aus
mangelhaften Führern, die mit einer falschen Ideologie behaftet sind: der Anerkennung des
kapitalistischen Marktes. Die Organisationen selbst gelten ihm als im Grunde gesund.
Gestützt auf diese subjektive Bewertung kritisiert Taaffe die »kleinen linken Gruppen«
damit meint er die Sektionen des Internationalen Komitees , die gestützt auf
Trotzki betonen, daß die Verrätereien der Gewerkschaften Ausdruck einer ganz objektiven
Entwicklungstendenz sind. Diese »einseitige« Sichtweise verkennt laut Taaffe die
Möglichkeit, daß rechte Gewerkschaftsführer »unter dem Druck der Basis, einer
aufrührerischen und kämpfenden Arbeiterklasse« gezwungen werden könnten, »sich vom
Staat zu lösen und eine Oppositionsbewegung der Arbeiterklasse anzuführen«.
Daher, so Taaffe, bestehe die »Haupttendenz der kommenden Periode« in Britannien und
anderswo darin, daß die Arbeiter »die Gewerkschaften zwingen werden, in ihrem Sinne zu
kämpfen«. Das Schicksal der Arbeiterklasse hänge von der »Regeneration der
Gewerkschaften« ab.
Ähnlich argumentiert eine Fraktion der mittlerweile aufgelösten Workers Revolutionary
Party. Was um jeden Preis vermieden werden müsse, betont sie, sei ein Kampf für neue
Formen der Arbeiterorganisation im Gegensatz zur Vorherrschaft der Gewerkschaften. »Jedes flache Basisdenken, das von der abstrakten Aussage ausgeht, daß die
Gewerkschaftsführer mit dem Staat unter einer Decke stecken und daß alternative
Organisationen aufgebaut und vernetzt werden müssen, wird der neuen Lage absolut nicht
gerecht.«1 Ich habe zwar keine gesonderten
Informationen über die nächtlichen Stelldicheins der Gewerkschaftsfunktionäre in
Britannien oder sonstwo, aber ihr Opportunismus ist alles andere als eine bloß
»abstrakte Aussage«. Die verräterischen Dienste der Gewerkschaftsoffiziellen werden
täglich von den Unternehmern und dem Staat in Anspruch genommen, und letztere werden
dabei selten in ihren Erwartungen enttäuscht.
Die Chancen auf eine Bekehrung der Gewerkschaften erscheinen viel geringer, wenn man
begriffen hat, daß die Kennzeichen und Merkmale der sie beherrschenden Bürokratien
subjektive Manifestationen objektiver gesellschaftlicher Eigenschaften und Prozesse sind.
Man soll und muß die Gewerkschaftsführer anprangern, aber dies darf nicht zum Ersatz
für eine Analyse des Gewerkschaftertums werden.
Eine bestimmte gesellschaftliche Form
Unser heutiges Ziel ist es daher, mit einer Analyse des Gewerkschaftertums zu beginnen,
die sich auf einen historischen Überblick über gewisse kritische Stadien in der
Entwicklung dieser besonderen Form der Arbeiterbewegung stützt. Wie ich schon bemerkte,
hat die sozialistische Bewegung in einem Zeitraum von über 150 Jahren einen
unermeßlichen Schatz an historischen Erfahrungen gesammelt. Diese Erfahrungen
rechtfertigt ihren Anspruch, der weltweit größte und betroffenste Experte in dieser
Frage zu sein.
Wir wollen keineswegs so tun, als sei das Gewerkschaftertum ein historischer Mißgriff,
der niemals hätte geschehen dürfen. Es wäre lächerlich, wollte man einem so allgemein
verbreiteten Phänomen wie den Gewerkschaften tiefe Wurzeln in der Struktur der
kapitalistischen Gesellschaft absprechen. Es gibt mit Sicherheit einen Zusammenhang
zwischen dem Gewerkschaftertum und dem Klassenkampf. Er beschränkt sich jedoch darauf,
daß Arbeiter sich deshalb gewerkschaftlich organisieren, weil die materiellen Interessen
der Arbeitgeber im Gegensatz zu jenen der Arbeiternehmer stehen. Aus dieser objektiven
Gegebenheit folgt noch lange nicht, daß die Gewerkschaften als eine von den
gesellschaftlichen Verhältnissen erzeugte Organisationsform sich mit dem Klassenkampf
(dem sie historisch gesprochen ihre Existenz verdanken) identifizieren oder ihn führen
wollen. Die Geschichte liefert vielmehr unzählige Beweise dafür, daß die
Gewerkschaften, von einer Förderung des Klassenkampfs weit entfernt, sich in viel
stärkerem Maße seiner Unterdrückung widmen.
Die Neigung der Gewerkschaften zur Unterdrückung des Klassenkampfs zeigt sich
besonders stark und ausgeprägt in ihrer Haltung gegenüber der sozialistischen Bewegung.
Es gibt, besonders für Sozialisten, keine tragischere Illusion als die Vorstellung, daß
die Gewerkschaften verläßliche oder gar unumgängliche Verbündete im Kampf gegen den
Kapitalismus seien. Die organische Entwicklung der Gewerkschaften geht nicht in Richtung
Sozialismus, sondern läuft ihm zuwider. Ungeachtet ihrer Entstehungsumstände d.
h. selbst in jenen Ländern, wo die Gewerkschaften direkt von revolutionären Sozialisten
ins Leben gerufen und geführt wurden widersetzten sie sich mit fortschreitender
Entwicklung und Festigung der sozialistischen Führung und versuchten diese mit Nachdruck
abzuschütteln. Nur wenn man diese Neigung erklären kann, wird man den Wesenskern des
Gewerkschaftertums verstehen.
Man muß stets berücksichtigen, daß wir es hier mit einer bestimmten gesellschaftlichen
Form zu tun haben. Die Gewerkschaften sind keine lockere, zufällige und formlose
Ansammlung von Individuen, sondern ein historisch entstandener Zusammenschluß von
Menschen, die in Klassen organisiert sind, sich auf bestimmte Produktionsverhältnisse
stützen und in diesen verwurzelt sind. Weiter ist es wichtig, sich über den Charakter
der Form als solcher Rechenschaft abzulegen. Wir alle wissen, daß es einen Zusammenhang
zwischen Form und Inhalt gibt, aber für gewöhnlich wird dieser nur so aufgefaßt, als ob
die Form ein bloßer Ausdruck des Inhalts sei. Von diesem Standpunkt her könnte man die
gesellschaftliche Form als einen nur äußerlichen, biegsamen und unbegrenzt wandelbaren
Ausdruck der Beziehungen auffassen, auf denen sie beruht. Aber auf einer tieferen Ebene
sind gesellschaftliche Formen dynamische Elemente des historischen Prozesses: Wenn man
sagt, daß »der Inhalt eine Form annimmt«, dann heißt das, daß die Form dem Inhalt,
dessen Ausdruck sie darstellt, bestimmte Qualitäten und Merkmale verleiht. Der Inhalt
existiert und entwickelt sich durch die Form.
Vielleicht wird dieser Ausflug in das Reich philosophischer Kategorien und
Abstraktionen verständlicher, wenn man den berühmten Absatz aus dem ersten Kapitel des
»Kapitals« zitiert, in dem Marx sagt: »Woher entspringt also der
rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt? Offenbar aus
dieser Form selbst.«2 Sobald ein Produkt der Arbeit
die Form einer Ware annimmt diese Verwandlung findet auf einer bestimmten Ebene der
Gesellschaft statt gewinnt sie eine besondere Qualität, nämlich den Charakter
eines Fetisch, die sie vorher nicht besaß. Sobald Produkte auf dem Markt ausgetauscht
werden, treten die wirklichen gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen, die
die Waren erst hervorgebracht haben, mit Notwendigkeit als Beziehung zwischen Dingen in
Erscheinung. Ein Arbeitsprodukt ist ein Arbeitsprodukt, doch sobald es im Rahmen neuer
Produktionsverhältnisse Warenform annimmt, gewinnt es neue, verblüffende
gesellschaftliche Qualitäten.
Entsprechend könnte man sagen: Eine Gruppe Arbeiter ist eine Gruppe Arbeiter. Doch
wenn sie die Form einer Gewerkschaft annehmen, dann gewinnen sie durch diese Form deutlich
umrissene neue gesellschaftliche Qualitäten, denen die Arbeiter unweigerlich unterworfen
werden. Was genau meinen wir damit? Die Gewerkschaften vertreten die Arbeiterklasse in
einer ganz bestimmten ökonomischen Rolle: als Verkäufer der Ware Arbeitskraft. Die
Gewerkschaften, die auf der Grundlage der Produktionsverhältnisse und Eigentumsformen des
Kapitalismus entstanden sind, erfüllen im wesentlichen den Zweck, für diese Ware den
besten Preis zu erzielen, der unter den gegebenen Marktbedingungen herauszuholen ist.
Natürlich besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen dem, was ich eben in der
Theorie zum »wesentlichen Zweck« der Gewerkschaften erklärt habe, und ihren
Aktivitäten im wirklichen Leben. Die praktische Realität der tägliche Ausverkauf
der unmittelbarsten Interessen der Arbeiterklasse entspricht der theoretisch
verstandenen »Norm« sehr wenig. Diese Abweichung widerlegt jedoch die theoretische
Erklärung nicht, sondern ergibt sich ihrerseits aus der ökonomischen Funktion der
Gewerkschaft in der Gesellschaft. Da sie sich auf den Boden der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse stellen, sind die Gewerkschaften von ihrem ganzen Charakter her
dazu gezwungen, gegenüber dem Klassenkampf eine feindliche Haltung einzunehmen. Da ihre
Anstrengungen darauf gerichtet sind, sich mit den Arbeitgebern über den Preis der
Arbeitskraft und die allgemeinen Bedingungen der Mehrwerterzeugung zu einigen, müssen die
Gewerkschaften auch sicherstellen, daß ihre Mitglieder ihre Arbeitskraft entsprechend der
ausgehandelten Verträge zur Verfügung stellen. Wie Gramsci bemerkte: »Die
Gewerkschaften vertreten die Legalität und müssen ihre Mitglieder zur Beachtung dieser
Legalität veranlassen.«
Die Verteidigung der Legalität bedeutet die Unterdrückung des Klassenkampfs. Das
führt naturgemäß dazu, daß sich die Gewerkschaften langfristig selbst das Wasser
abgraben. Sie unterhöhlen selbst ihre Fähigkeit, auch nur jene beschränkten Ziele zu
erreichen, die sie sich offiziell gesetzt hatten. Hier liegt der Widerspruch, an dem das
Gewerkschaftertum krankt.
Außerdem muß man betonen, daß sich der Konflikt zwischen den Gewerkschaften und der
revolutionären Bewegung letztlich nicht aus den Fehlern und Schwächen der
Gewerkschaftsführer ergibt obwohl an beiden kein Mangel herrscht , sondern
aus dem Charakter der Gewerkschaften selbst. Er entzündet sich im wesentlichen an der
organischen Opposition der Gewerkschaften zur Entfaltung und Ausweitung des Klassenkampfs,
und diese Opposition wird um so entschiedener, erbitterter und tödlicher, je mehr sich
der Klassenkampf zu einer Bedrohung für die Produktionsverhältnisse des Kapitalismus, d.
h. für die Grundlagen des Gewerkschaftertums selbst auswächst.
Darüber hinaus konzentriert sich diese Opposition auf die sozialistische Bewegung,
denn diese vertritt die Arbeiterklasse nicht in ihrer beschränkten Rolle als Verkäufer
der Arbeitskraft, sondern in ihrer historischen Berufung als revolutionäre Antithese der
Produktionsverhältnisse des Kapitalismus.
Die beiden entscheidenden und wesentlichen Aspekte des Gewerkschaftertums, die ich
angeführt habe seine Neigung zur Unterdrückung des Klassenkampfs und seine
Feindschaft gegenüber der sozialistischen Bewegung werden von der Geschichte
reichhaltig illustriert. In dieser Hinsicht birgt die Gewerkschaftsbewegung in zwei
Ländern, England und Deutschland, wichtige Lehren und Einsichten.
Die Gewerkschaften in England
England gilt allgemein als die große Heimat des modernen Gewerkschaftertums, in der
die Arbeiterklasse durch diese Organisationsform beachtliche Errungenschaften
verwirklichte. Eben diesen Eindruck hinterließen die Gewerkschaften bei Eduard Bernstein
während seines ausgedehnten England-Aufenthaltes in den späten achtziger und in den
neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die augenscheinlichen Erfolge der britischen
Gewerkschaften überzeugten Bernstein, daß die ökonomischen Kämpfe dieser
Organisationen, und nicht die politischen Bestrebungen der revolutionären Bewegung, den
ausschlaggebenden Faktor für Fortschritte der Arbeiterklasse und für die allmähliche
Umwandlung der Gesellschaft in Richtung Sozialismus darstellten.
Alles, was die kleinbürgerlichen Radikalen heute sagen, wurde vor hundert Jahren vom
Gründer des modernen Revisionismus vorweggenommen. Die Tatsache, daß ihre Argumente
hundert Jahre alt sind, macht sie an sich noch nicht ungültig. Ich gebe gern zu, daß
einige der Argumente, die ich benutze, auch hundert Jahre alt sind nämlich die
Argumente Rosa Luxemburgs gegen Bernstein. Aber für diese Argumente spricht, daß sie im
Verlauf des letzten Jahrhunderts bestätigt worden sind, während jene der
Neo-Bernsteinianer restlos widerlegt wurden.
Übrigens stellten bereits die zeitgenössischen Kritiker Bernsteins fest, daß seine
Bewertung der ökonomischen Errungenschaften der britischen Gewerkschaften stark
übertrieben war. Der Aufstieg des Gewerkschaftertums zur vorherrschenden Rolle in der
Arbeiterbewegung, der Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, war
in der Tat ein Ausdruck der politischen Degeneration und geistigen Stagnation nach der
Niederlage der großen revolutionären politischen Bewegung der britischen Arbeiterklasse,
des Chartismus. Die chartistische Bewegung war der Höhepunkt einer außerordentlichen
politischen, kulturellen und geistigen Gärung gewesen, die in den Jahrzehnten nach der
französischen Revolution breite Schichten der Arbeiterklasse erfaßt hatte. Jahre nach
der endgültigen Niederschlagung des Chartismus 1848-49 verglich Thomas Cooper, einer
seiner angesehensten Führer, den revolutionären Geist der alten Bewegung mit der
dumpfen, kleinbürgerlichen Einstellung, die von den Gewerkschaften kultiviert wurde. In
seiner Autobiographie schrieb er:
»Ja, in den alten Tagen des Chartismus gingen die Arbeiter von
Lancashire zu Tausenden in Lumpen gekleidet, und viele hatten oft nichts zu essen. Aber
auf Schritt und Tritt wurde man Zeuge ihrer Intelligenz. Man sah sie in Gruppen
zusammenstehen und über die große Lehre der politischen Gerechtigkeit diskutieren
daß jeder erwachsene, geistig gesunde Mann stimmberechtigt sein sollte bei der Wahl jener
Männer, die die Gesetze machten, nach denen er regiert werden sollte; oder sie führten
ernste Streitgespräche über die Lehren des Sozialismus. Heute sieht man in Lancashire
keine Gruppen mehr beieinanderstehen. Aber man hört, wie gut gekleidete Männer, die
Hände in Hosentaschen, von Genossenschaften und ihren Anteilen daran oder an
Bausparkassen sprechen.« 3
Mit den Gewerkschaften entstand ein neuer Typus von Arbeiterführer: schüchterne
Gentlemen, die sich nach einer ehrbaren gesellschaftlichen Stellung in der Mittelklasse
sehnten und das neue Hohelied des Klassenkompromisses sangen, rückten an die Stelle der
alten revolutionären Chartisten. Theodore Rothstein, ein sozialistischer Historiker des
Chartismus, schrieb dazu:
»Männer von großem Talent, großem Temperament, großer und tiefer
Gelehrsamkeit, die noch wenige Jahre zuvor die kapitalistische Gesellschaft in ihren
Grundfesten erschüttert hatten und denen Hunderttausende Fabrikarbeiter gefolgt waren,
wurden jetzt zu einsamen, unbekannten, von der Mehrheit unverstandenen Gestalten, denen
nur noch eine kleine Gruppe Auserwählter anhing. Ihr Platz wurde von neuen Männern
eingenommen, die nicht einen Bruchteil ihrer Geistesgröße, ihres Talents und ihres
Charakters besaßen und ähnlich Hunderttausende Arbeiter an sich zogen mit dem
seichten Gewäsch von der Sorge um jeden Groschen und von der Notwendigkeit
eines Abkommens mit den Arbeitergebern eben darüber, selbst um den Preis der
Klassenunabhängigkeit.«4
Das Gewerkschaftertum schätzt Rothstein folgendermaßen ein:
»Kennzeichnend für diese Geisteshaltung war, daß man sich mit der
kapitalistischen Gesellschaft aussöhnte. Diese Aussöhnung schlug sich darin nieder, daß
man jedes politische Handeln ablehnte und die Lehren der vulgären politischen Ökonomie
übernahm, wonach eine Interessensharmonie zwischen der Unternehmer- und der
Arbeiterklasse besteht.«5
Die Verteidiger des Gewerkschaftertums argumentieren, daß der Rückzug der britischen
Arbeiter vom politischen Kampfplatz notwendig war, damit die Klasse ihre Kraft auf die
vielversprechenden Möglichkeiten des ökonomischen Kampfes konzentrieren konnte. Dieser
Theorie widerspricht, daß der Aufstieg der Gewerkschaften nicht mit verstärkten
wirtschaftlichen Kämpfen einherging. Diese wurden vielmehr von den neuen Führern der
Arbeiterklasse allgemein abgelehnt. Von den frühen siebziger bis Mitte der neunziger
Jahre des 19. Jahrhunderts, in der Blütezeit des Gewerkschaftertums in England,
stagnierten die Arbeiterlöhne. Die Gewerkschaften büßten in dieser Zeitspanne ihr
Ansehen nur deshalb nicht ein, weil damals auch die Preise für Grundnahrungsmittel wie
Mehl, Kartoffeln, Brot, Fleisch, Tee, Zucker und Butter stark fielen.
In den frühen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als unter den Arbeitern revolutionäre
Stimmungen weit verbreitet waren, war die englische Bourgeoisie allen
Assoziationsversuchen erbittert entgegengetreten. Zum Ende des Jahrhunderts erkannte die
Bourgeoisie jedoch, daß die Gewerkschaften der Stabilität des Kapitalismus einen
gewaltigen Dienst erwiesen insbesondere als Bollwerk gegen das Wiedererstarken
sozialistischer Tendenzen in der Arbeiterklasse. Der deutsche bürgerliche Ökonom
Brentano schrieb, daß ein Scheitern der Gewerkschaften in England durchaus nicht den
Triumph der Unternehmer bedeuten würde, sondern eine Stärkung der revolutionären
Tendenzen auf der ganzen Welt. England, das sich bisher des Fehlens einer irgendwie ernst
zu nehmenden revolutionären Arbeiterpartei rühmte, würde dann, so Brentano, in dieser
Hinsicht mit dem Kontinent gleichziehen.
In der Aufstiegsperiode der Gewerkschaften lebten Marx und Engels in England im Exil.
Noch bevor sie dort eingetroffen waren, hatten sie die objektive Bedeutung der
Gewerkschaften konstatiert, die sie in der Reaktion der Arbeiterklasse auf die
Lohndrückerei der Unternehmer sahen. Im Gegensatz zu dem kleinbürgerlichen Theoretiker
Proudhon, der den Nutzen sowohl von Gewerkschaften als auch von Streiks bestritt
weil so herbeigeführte Lohnerhöhungen nur zu Preissteigerungen führen würden ,
betonte Marx, daß beides notwendigerweise zum Kampf der Arbeiterklasse um ihren
Lebensstandard gehöre.
Marx Kritik an den Ansichten Proudhons war sicherlich berechtigt, aber man muß
sich auch darüber Rechenschaft ablegen, daß diese frühen Schriften zu einer Zeit
entstanden, als die Gewerkschaften gewissermaßen noch in den Windeln lagen. Die Erfahrung
der Arbeiterklasse mit dieser neuen Organisationsform war noch sehr beschränkt. Man
konnte damals die Möglichkeit nicht ausschließen, daß sich die Gewerkschaften noch zu
machtvollen Instrumenten des revolutionären Kampfes entwickeln würden, oder zumindest
direkte Vorläufer solcher Instrumente waren. Dieser Hoffnung verlieh Marx Ausdruck, als
er 1866 schrieb, daß die Gewerkschaften zu »Organisationszentren« für
die Arbeiterklasse geworden seien, »wie es die mittelalterlichen Munizipalitäten und
Gemeinden für das Bürgertum waren.«6
Aber schon zu dieser Zeit meinte Marx, die Gewerkschaften hätten »noch
nicht völlig begriffen, welche Kraft sie im Kampf gegen das System der Lohnsklaverei
selbst darstellen.«7 In eben diese Richtung
müßten sie sich entwickeln:
»Abgesehen von ihren ursprünglichen Zwecken müssen sie jetzt lernen,
bewußt als organisierende Zentren der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse
ihrer vollständigen Emanzipation. Sie müssen jede soziale und politische Bewegung
unterstützen, die diese Richtung einschlägt. Wenn sie sich selbst als Vorkämpfer und
Vertreter der ganzen Arbeiterklasse betrachten und danach handeln, muß es ihnen gelingen,
die Außenstehenden in ihre Reihen zu ziehen. Sie müssen sich sorgfältig um die
Interessen der am schlechtesten bezahlten Gewerbe kümmern, z.B. der Landarbeiter, die
durch besonders ungünstige Umstände ohnmächtig sind. Sie müssen die ganze Welt zur
Überzeugung bringen, daß ihre Bestrebungen, weit entfernt, begrenzte und selbstsüchtige
zu sein, auf die Emanzipation der unterdrückten Millionen gerichtet sind.«8
Marx versuchte den Gewerkschaften eine sozialistische Orientierung zu geben. Er warnte
die Arbeiterklasse, die Bedeutung der Kämpfe, die die Gewerkschaften führten, nicht
überzubewerten: »Sie sollte nicht vergessen, daß sie gegen Wirkungen
kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; daß sie zwar die
Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; daß sie Palliativmittel
anwendet, die das Übel nicht kurieren.«9 Die
Gewerkschaften sollten den Kampf gegen das System aufnehmen, das die Ursache für das
Arbeiterelend war, und darum schlug Marx den Gewerkschaften vor, daß sie
statt des konservativen Mottos »Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!« die
revolutionäre Losung »Abschaffung des Lohnsystems!« auf ihr Banner schreiben sollten.10
Aber Marx Ratschläge beeindruckten die Gewerkschaften wenig, und in den späten
siebziger Jahren klangen die Bemerkungen von Marx und Engels zum Thema Gewerkschaften
schon weitaus kritischer. Nun, da die bürgerlichen Ökonomen den Gewerkschaften immer
aufgeschlossener begegneten, legten Marx und Engels großen Wert darauf, ihre frühere
Unterstützung für sie zu relativieren. Sie grenzten sich von bürgerlichen Denkern wie
Lujo Brentano ab, dessen Begeisterung für die Gewerkschaften sie auf seinen Wunsch
zurückführten, die Lohnsklaven zu zufriedenen Lohnsklaven zu machen.
Bereits 1879 spürt man in Engels Schriften zum Thema Gewerkschaften einen
unverkennbaren Ton des Widerwillens. Er stellte fest, die »Trade Unions schließen sogar
prinzipiell und statutenmäßig jede politische Aktion aus und damit die Teilnahme an
jeder allgemeinen Tätigkeit der Arbeiterklasse als Klasse.« In einem Brief an Bernstein
vom 17. Juni 1879 beschwerte sich Engels, daß die Gewerkschaften die Arbeiterklasse in
eine Sackgasse geführt hätten. »Es darf nicht verschwiegen werden, daß
in diesem Augenblick eine eigentliche Arbeiterbewegung, im kontinentalen Sinn, hier nicht
besteht, und daher glaube ich nicht, daß Sie viel verlieren, wenn Sie vorläufig keine
Berichte über das Treiben der hiesigen Trade Unions erhalten.«11
In einem Artikel, in dem er sechs Jahre später das England von 1885 mit jenem von 1845
verglich, äußerte Engels unverhüllt seine Verachtung für die konservative Rolle der
Gewerkschaften. Als eine Aristokratie innerhalb der Arbeiterklasse unterhielten sie die
freundlichsten Beziehungen zu den Unternehmern, um für sich selbst ein warmes Plätzchen
zu ergattern. Die Gewerkschaften, schrieb Engels mit schneidendem Sarkasmus, »sind in der Tat sehr nette, traktable Leute für jeden verständigen
Kapitalisten im besonderen und für die Kapitalistenklasse im allgemeinen.«12
Doch die große Masse der Arbeiterklasse hatten die Gewerkschaften fast völlig
übergangen, für sie steht »das Niveau des Elends und der
Existenzunsicherheit... heute ebenso niedrig, wenn nicht niedriger als je. Das Ostende von
London ist ein stets sich ausdehnender Sumpf von stockendem Elend und Verzweiflung, von
Hungersnot, wenn unbeschäftigt, von physischer und moralischer Erniedrigung, wenn
beschäftigt.«13
Als Ende der achtziger Jahre eine neue, kämpferische Gewerkschaftsbewegung unter den
stärker ausgebeuteten Schichten der Arbeiterklasse entstand, faßte Engels neue Hoffnung.
An dieser neuen Bewegung waren auch Sozialisten, darunter Eleanor Marx, aktiv beteiligt.
Engels reagierte begeistert auf diese Entwicklungen und schrieb mit großer Befriedigung: »Diese neuen Trade-Unions ungelernter Arbeiter und Arbeiterinnen
unterscheiden sich völlig von den alten Organisationen der Arbeiteraristokratie und
können nicht auf dieselben konservativen Wege geraten... Und sie sind unter ganz anderen
Voraussetzungen organisiert alle führenden Männer und Frauen sind Sozialisten und
noch dazu sozialistische Agitatoren. In ihnen sehe ich hier den wirklichen Anfang
der Bewegung.«14
Aber Engels Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Es dauerte nicht lange, da
legten diese »neuen« Gewerkschaften die selben konservativen Neigungen an den Tag, wie
die alten. Schon sehr früh bestätigten sich hier die theoretischen Auffassungen, die in
unseren Augen für eine Analyse der Gewerkschaften von zentraler Bedeutung sind
daß das Wesen dieser Organisationen nicht von der gesellschaftlichen Stellung jener
speziellen Arbeiterschicht bestimmt wird, die in ihnen organisiert ist. Diese Faktoren
beeinflussen bestenfalls gewisse zweitrangige Aspekte der Gewerkschaftspolitik
einige Gewerkschaften treten deshalb vielleicht mehr oder weniger kämpferisch auf, als
andere. Wenn man aber der Sache auf den Grund geht, dann gibt die gewerkschaftliche Form,
deren Struktur in den gesellschaftlichen Beziehungen und Produktionsverhältnissen des
Kapitalismus und im nationalstaatlichen Rahmen eingebettet ist und sich daraus herleitet,
den Ausschlag über die Orientierung ihres »Inhalts« der Arbeitermitgliedschaft.
Die deutschen Gewerkschaften und die SPD
Auf dem Kontinent, besonders in Deutschland, wurden aus diesen frühen Erfahrungen mit
den Gewerkschaften theoretische Lehren gezogen. Die deutschen Sozialisten sahen in den
englischen Gewerkschaften nicht Vorläufer des Sozialismus, sondern einen
organisatorischen Ausdruck der politischen und ideologischen Unterwerfung der
Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie. Diese kritische Haltung leiteten sie nicht nur aus
theoretischen Einsichten ab. Sie widerspiegelte auch ein ganz anderes Kräfteverhältnis
zwischen der marxistischen Partei und den Gewerkschaften in der Arbeiterbewegung. In
Deutschland war der Anstoß zur Entwicklung einer Massenbewegung der Arbeiter nicht von
den Gewerkschaften, sondern von der Sozialdemokratischen Partei ausgegangen, der es
zwischen 1878 und 1890, während Bismarcks Sozialistengesetzen, gelungen war, zur
anerkannten politischen Führung der Arbeiterklasse zu werden. Die sogenannten »freien«
Gewerkschaften wurden auf Initiative der SPD hin gegründet. Im wesentlichen sollten sie
der sozialistischen Bewegung neue Mitglieder zuführen.
Der Einfluß der Gewerkschaften begann mit Hilfe der SPD, die ihr den Führungskader
und die politische Orientierung gab, in den neunziger Jahren zu wachsen. Doch die
fortdauernden Folgen der langen industriellen Depression setzten der Mitgliedschaft der
Gewerkschaften immer noch Grenzen, und noch 1893 betrug das Verhältnis zwischen der Zahl
der sozialdemokratischen Wähler und der Gewerkschaftsmitglieder acht zu eins. Dennoch
wurden in der SPD Befürchtungen laut, daß die Gewerkschaften mit der Partei um den
Einfluß in der Arbeiterklasse konkurrieren könnten. Die Gewerkschaften bestritten ein
solches Ansinnen energisch. Ihr Vorsitzender Carl Legien definierte die Gewerkschaften auf
dem Kölner Parteitag von 1893 als »Rekrutenschulen der Partei«.
Doch mit dem Ende der Depression im Jahr 1895 begannen die deutschen Gewerkschaften
schnell zu wachsen, und das veränderte Kräfteverhältnis verstärkte die Spannungen
zwischen der Partei und den Gewerkschaften. Im Jahr 1900 schließlich betrug die
Mitgliederzahl der Gewerkschaften rund 600.000. Vier Jahre später waren es eine Million.
Je deutlicher die Zahl der SPD-Wähler im Verhältnis zu jener der Gewerkschaftsmitglieder
abnahm, desto mehr erhöhte sich die Abhängigkeit der SPD von den Stimmen der
Gewerkschafter.
Die Führer der Gewerkschaften selbst gaben Bernstein anfangs zwar keine politische
Unterstützung, als er das Banner des Revisionismus entfaltete, doch in der Partei war man
sich weitgehend darüber im klaren, daß seine Theorien nur zu einer Umorientierung der
deutschen sozialistischen Bewegung nach englischem Muster führen konnten, so daß die
reformistischen Gewerkschaften die revolutionäre politische Partei als Schwerpunkt der
Arbeiterbewegung verdrängen würden.
In ihren Polemiken gegen Bernstein befaßten sich die wichtigsten Theoretiker der
Sozialdemokratie ausführlich mit seinem Versuch, die Gewerkschaften als unerläßliche
Bastion der sozialistischen Bewegung darzustellen. Rosa Luxemburg stand an der Spitze
dieser Auseinandersetzung. Ihre wichtigste Schrift in dieser Hinsicht ist »Sozialreform
oder Revolution«. Darin nimmt sie Bernsteins Behauptung auseinander, daß die
Gewerkschaften den Ausbeutungsmechanismen des Kapitalismus tatsächlich entgegentreten
und, wenn auch allmählich, die Vergesellschaftung herbeiführen könnten. Luxemburg
betonte, dies widerspreche schlicht den Tatsachen: die Kämpfe der Gewerkschaften führten
nicht zur Abschaffung der Klassenausbeutung. Sie sorgten nur dafür, daß das Proletariat
im Rahmen der Ausbeutungsmechanismen des Kapitalismus in Form von Löhnen den besten Preis
für seine Arbeitskraft erhielt, den der Markt hergab.
Und was die Gewerkschaften an Lohnerhöhungen für die Arbeiterklasse herausholen
konnten, wurde durch die Schwankungen des Marktes und die allgemeine Dynamik der
kapitalistischen Expansion wieder beschnitten. Die kapitalistische Gesellschaft, warnte
sie, gehe »nicht Zeiten einer siegreichen Machtentfaltung, sondern
wachsenden Schwierigkeiten der gewerkschaftlichen Bewegung« entgegen.15 Unabhängig von den zeitweiligen Errungenschaften der
Gewerkschaften hatten sie sich in dem Maße, wie ihre Arbeit in den vom Kapitalismus
gesetzten Grenzen verblieb, einer »Sisyphusarbeit« verschrieben. Diese geflügelte
Metapher, die eine so vernichtend treffende und vorausschauende Bewertung der
gewerkschaftlichen Tätigkeit enthielt, wurde Rosa Luxemburg von den Gewerkschaftsführern
nie verziehen.
Unsere Zusammenfassung kann Luxemburgs Analyse schwerlich gerecht werden. Sie
untersuchte die objektiven Ursachen für die Unfähigkeit der Gewerkschaften, mehr zu tun,
als die Ausbeutung der Arbeiterklasse im Kapitalismus zu dämpfen, und selbst dies nur
vorübergehend. Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt ihrer Kritik am
Bernsteinianertum hinweisen, der heute besonders relevant ist sie bestritt, daß
die Tätigkeit der Gewerkschaften an sich etwas Sozialistisches enthalte, oder daß ihre
Arbeit eine wesentliche Voraussetzung für den Sieg der sozialistischen Sache bilde.
Luxemburg leugnete nicht, daß die Gewerkschaften, sofern sie von Sozialisten geführt
wurden, der revolutionären Bewegung wichtige Dienste leisten konnten. Ja, sie hoffte,
durch ihre Kritik eben dazu beizutragen. (Ob dieses Ziel überhaupt erreichbar war, steht
auf einem anderen Blatt und soll später behandelt werden.) Aber sie warnte vor jeglichen
Illusionen über organische sozialistische Neigungen des Gewerkschaftertums als solchem.
»Gerade der englische Trade-Unionismus«, schrieb Rosa Luxemburg, »...beweist
also, daß die gewerkschaftliche Bewegung an und für sich noch gar nichts Sozialistisches
ist, ja daß sie unter Umständen ein direktes Hindernis für die Verbreitung des
sozialistischen Bewußtseins sein kann, so wie auch umgekehrt das sozialistische
Bewußtsein ein Hindernis für rein gewerkschaftliche Erfolge sein kann.«16
Dieser Absatz ist bis heute eine schlagende Replik auf all jene, die sich sklavisch an
die Gewerkschaften und deren Bürokratien anpassen und die sich die Arbeiterbewegung in
keiner anderen, als einer gewerkschaftlichen Form vorstellen können. Wie dieser Absatz
deutlich macht, gibt es keine organischen und unverbrüchlichen Bande zwischen dem
Gewerkschaftertum und dem Sozialismus. Sie bewegen sich nicht notwendigerweise auf
parallelen Geleisen auf ein gemeinsames allgemeines Ziel zu. Die gewerkschaftliche
Bewegung, die, wie Luxemburg sagt, »an und für sich noch gar nichts Sozialistisches«
ist, unterhöhlt die Entwicklung von sozialistischem Bewußtsein. Und die politischen
Grundsätze der Sozialisten, die ihre Tätigkeit auf die historischen Interessen der
Arbeiterklasse begründen, stehen darüber hinaus den praktischen Zielen der
Gewerkschaften im Wege.
In England entstanden die Gewerkschaften auf den Ruinen des Chartismus und unabhängig
von der sozialistischen Bewegung. In Deutschland dagegen entstanden die Gewerkschaften
direkt unter den Fittichen der sozialistischen Bewegung. Ihre Führer hatten die Lehren
von Marx und Engels eifrig studiert. Und doch erwiesen sich die deutschen Gewerkschaften
am Ende dem Sozialismus nicht geneigter, als die englischen. Zur Jahrhundertwende, nachdem
der Zustrom Hunderttausender neuer Mitglieder ihr Selbstvertrauen gesteigert hatte,
äußerten die Gewerkschaften ihr Unbehagen über den politischen Einfluß der Partei und
über ihre Unterordnung unter deren politische Ziele. Dieses Unbehagen schlug sich in
einer neuen Plattform nieder: der Plattform der politischen Neutralität. Ein zunehmender
Teil der Gewerkschaftsführer begann zu argumentieren, daß es keinen Grund gebe, weshalb
ihre Organisationen den Kampagnen der SPD besondere Loyalität schulden sollten. Die
Vorherrschaft der SPD, sagten sie, raube den Gewerkschaften die Möglichkeit, auch unter
jenen Arbeitern Mitglieder zu werben, die sich nicht für sozialistische Politik
interessierten oder sie ablehnten. Zu den führenden Vertretern dieser Strömung gehörte
Otto Hué, der darauf bestand, daß die Gewerkschaften den Berufs- (nicht Klassen-)
Interessen ihrer Mitglieder nur dienen könnten, wenn sie sich politisch neutral
verhielten. Welchen politischen Standpunkt die Arbeiter im Rahmen der gewerkschaftlichen
Neutralität schließlich bezögen, könne und müsse den Gewerkschaftsführern
gleichgültig sein, erklärte Hué.
Von 1900 bis 1905 wuchsen die Spannungen zwischen der Partei und den Gewerkschaften. In
ihrer Eigenschaft als Delegierte auf den Parteitagen der SPD stimmten die
Gewerkschaftsführer weiterhin im Sinne der sozialistischen Orthodoxie. Der Grund bestand
darin, daß die objektiven Entwicklungen noch nicht so weit herangereift waren, daß der
theoretische Kampf gegen den Revisionismus schon praktische Formen angenommen hätte. Dies
änderte sich mit den Ereignissen von 1905, sowohl in Deutschland als auch jenseits seiner
Grenzen. Der Ausbruch der Revolution in Rußland hinterließ in der deutschen
Arbeiterklasse einen ungeheuren Eindruck. Mit gespanntem Interesse verfolgten die Arbeiter
die detaillierte Berichterstattung über die revolutionären Kämpfe in der
sozialistischen Presse.
Darüber hinaus gingen die Ereignisse in Rußland mit dem Ausbruch einer Welle
erbitterter Streiks in Deutschland einher, besonders unter den Bergarbeitern des
Ruhrgebiets. Die Arbeiter waren sehr kämpferisch gestimmt, stießen aber auf den harten
Widerstand der Zechenbesitzer. Die Gewerkschaften prallten vor der unversöhnlichen
Haltung der Unternehmer zurück, auf die sie keine wirkungsvolle Antwort hatten. Die
Streiks wurden abgebrochen, was das Vertrauen der Arbeiter auf die Wirkung der
traditionellen Gewerkschaftstaktik erschütterte.
In dieser neuen Situation argumentierte Luxemburg mit der Unterstützung Kautskys, daß
die Ereignisse in Rußland für ganz Europa von großer Bedeutung seien und den deutschen
Arbeitern die Macht einer neuen Form des Massenkampfes vor Augen geführt hätten: des
politischen Streiks. Die Idee eines politischen Massenstreiks stieß in der Arbeiterklasse
auf breite Unterstützung. Doch die Gewerkschaftsführer waren über Luxemburgs Argumente
entsetzt. Wohin sollte das führen? Wenn die Arbeiter Luxemburgs Theorien gemäß handeln
würden, dann würden sie die Gewerkschaften in »revolutionäre Abenteuer« verwickeln,
die den Funktionären gänzlich fern lagen. Massenstreiks würden die Gewerkschaften
riesige Summen kosten und ihre Bankkonten, den ganzen Stolz ihrer Führer, rasch leeren.
Um eine solche Katastrophe zu verhindern, entschieden sich die Gewerkschaftsführer zu
einem Präventivschlag gegen Luxemburg und die anderen Radikalen in der SPD. Auf dem
Gewerkschaftskongreß, der im Mai 1905 in Köln stattfand, wurde eine Kommission gebildet,
die eine Resolution zur Haltung der Gewerkschaften gegenüber der Frage des Massenstreiks
ausarbeiten sollte. Der Sprecher dieses Ausschusses, Theodor Bömelburg, erklärte: »Um aber unsere Organisation aufzubauen, dazu brauchen wir in der
Arbeiterbewegung Ruhe. In der deutschen Gewerkschaftsbewegung haben wir dafür zu sorgen,
daß die Diskussion verschwindet und daß man die Lösung der Zukunft dem gegebenen
Augenblick überläßt.«17
Der Gewerkschaftskongreß verabschiedete schließlich eine Resolution, die einer
Kriegserklärung an den linken Flügel der SPD gleichkam. Sie brandmarkte die Idee des
Generalstreiks als »undiskutabel« und warnte die Arbeiter davor, »sich
durch die Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der
Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.«18
Diese Rebellion der Gewerkschaftsführer gegen die Partei erschütterte die SPD
zutiefst. Kautsky erklärte, der Kongreß habe das Ausmaß der Entfremdung der
Gewerkschaften von der Partei ans Tageslicht gebracht, und meinte: »Es
bildet eine seltsame Ironie des Schicksals, daß auf dem Gewerkschaftskongreß das
Bedürfnis der Gewerkschaften nach Ruhe in einem Jahr proklamiert wird, das
revolutionärer ist als irgendeines seit einem Menschenalter.«19
Für Kautsky lag auf der Hand, daß »die Gewerkschafter anfangen,
mehr Gewicht auf die Fülle der Kassen als auf die moralische Qualität der Massen zu
legen.«20
Der Haß der Gewerkschaftsführer auf den linken Flügel der SPD nahm krankhafte Formen
an. Besonders Rosa Luxemburg war unaufhörlich giftigen Verleumdungen ausgesetzt. Otto
Hué, der Herausgeber der Zeitschrift der Bergarbeitergewerkschaft, riet jenen, die einen
solchen Überschuß an revolutionärer Energie hätten, sich nach Rußland zu begeben,
anstatt von ihren Urlaubsorten aus Generalstreiksdiskussionen zu propagieren. Selbst als
Luxemburg aufgrund ihrer revolutionären Tätigkeit in Polen im Gefängnis saß, wurden
die Angriffe auf sie noch verschärft. Angewidert von den gemeinen persönlichen Attacken
auf Luxemburg, mit der er damals noch befreundet und verbündet war, verwahrte sich
Kautsky gegen die Hetzjagd auf eine Führerin »des proletarischen Klassenkampfes«. Nicht
Luxemburg, schrieb er, gefährde die Beziehungen zwischen der Partei und den
Gewerkschaften, sondern die Gewerkschaftsleiter, die einen primitiven Haß auf jede Form
der Arbeiterbewegung hegten, die sich ein ehrgeizigeres Ziel setzte, als fünf Pfennig
mehr pro Stunde.
Eine Zeitlang setzte sich die SPD-Führung gegen die Gewerkschaftsfunktionäre zur
Wehr, wenn auch so vorsichtig wie möglich. Auf dem Parteitag in Jena im September 1905
brachte Bebel eine sorgfältig formulierte Resolution ein, die den Wert des Massenstreiks
teilweise anerkannte aber nur als Defensivwaffe. Im Gegenzug fanden sich die
Gewerkschaften mit Bebels Formulierung ab. Aber nur kurzfristig. Auf dem Parteikongreß in
Mannheim im September 1906 forderten und erreichten die Gewerkschaftsführer von der SPD
die Verabschiedung einer Resolution, in der das Prinzip der »Gleichberechtigung«
zwischen den Gewerkschaften und der Partei festgeschrieben wurde. Das bedeutete, daß die
Partei zu allen Fragen, die die Gewerkschaften direkt betrafen, eine für diese annehmbare
Position ausarbeiten mußte. Gegen heftigen Widerstand würgten die Parteiführer
gemeinsam mit den Gewerkschaftsvertretern die Diskussion in bürokratischer Weise ab und
peitschten die Resolution durch.
Von diesem Moment an wurde die SPD praktisch von der Generalkommission der
Gewerkschaften regiert. Die Beziehung der Gewerkschaften zur Partei entsprach dem
Grundsatz jenes schlauen Bauernweibs, das ihrem Mann folgenden Ehevertrag vorschlug: »Wenn wir in einer Frage einverstanden sind, so soll dein Wille geschehen;
wenn wir auseinander gehen, soll nach meinem Sinne gehandelt werden.«21
In ihren Auseinandersetzungen mit Luxemburg und den revolutionären Kräften in der SPD
behaupteten die Gewerkschaftsoffiziellen gern, daß sie weitaus besser wüßten, was der
Durchschnittsarbeiter wollte, als die revolutionären Theoretiker. In ihrer
Voreingenommenheit für Abstraktionen und utopische Visionen hätten Luxemburg und
ihresgleichen keine wirklich praktischen Antworten auf die Probleme der Arbeiter in den
Zechen und Fabrikhallen. Die Theoretiker könnten trefflich von kommenden revolutionären
Erschütterungen und dem dann folgenden sozialistischen Utopia träumen, aber hier und
jetzt lag den Arbeitern viel mehr an ein paar zusätzlichen Mark in der Lohntüte.
Wahrscheinlich widerspiegelten die Argumente der Gewerkschaftsführer tatsächlich die
Haltung beträchtlicher Teile der Arbeiterklasse in den Jahren, als die Debatte über den
Massenstreik begann. Möglicherweise hätten, wäre die Angelegenheit 1905 oder 1906 zur
Abstimmung gestellt worden, tatsächlich mehr Arbeiter für Legien als für Luxemburg
gestimmt. Wenn man die Haltung der Arbeiter zu der Auseinandersetzung zwischen den
Marxisten und den reformistischen Gewerkschaftsspitzen betrachtet, muß man sich jedoch
über eines klar sein: Die Gewerkschaften waren sozusagen institutionell und
konstitutionell einer Politik »verpflichtet«, die an die organische Abhängigkeit von
kapitalistischen Produktionsverhältnissen und von der nationalstaatlichen Ordnung
gebunden war.
Die Arbeiterklasse, als eine ihrem Wesen nach revolutionäre gesellschaftliche Kraft,
war nicht in dieser Weise an das gradualistische Programm der reformistischen Anpassung
gebunden. Die Entfaltung der inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems zerrte am
Gewebe des sozialen Kompromisses in Deutschland. Als die Spannungen zwischen den Klassen
zunahmen, bezogen die Arbeiter eine aggressivere und feindlichere Haltung gegenüber den
Arbeitgebern und dem Staat. In den Jahren 1910-11 wurde deutlich, daß Luxemburgs
Argumente mittlerweile unter breiteren Schichten der Arbeiterklasse Unterstützung fanden.
Insbesondere im Gefolge der Streiks von 1912-13, die am erbitterten Widerstand der
Unternehmer scheiterten, nahm die Unzufriedenheit der Arbeiter mit den offiziellen
Gewerkschaften spürbar zu.
Der Ausbruch des Weltkriegs im August 1914 unterbrach den Radikalisierungsprozeß
vorübergehend. Doch schon 1915-16 durchbrach der soziale Unmut der Arbeiter, angeheizt
durch den Krieg, die von den offiziellen Gewerkschaften errichteten Dämme. Die alten
bürokratischen Argumente gegen den politischen Massenstreik wurden schließlich im
Oktober-November 1918 mit dem Ausbruch der deutschen Revolution beantwortet. Der
revolutionäre Charakter der Massenbewegung schlug sich, wie von Luxemburg theoretisch und
in der russischen Revolution praktisch vorweggenommen, in neuen Organisationsformen
den revolutionären Obleuten und insbesondere den Arbeiterräten nieder, die aus
der Opposition gegen die offiziellen Gewerkschaften hervorgegangen waren.
Die Erfahrungen der deutschen und der englischen Arbeiterklasse waren die größte
historische Probe auf das Gewerkschaftertum. Wenn wir ausreichend Zeit hätten, könnten
wir unsere Analyse des inhärenten Gegensatzes zwischen Sozialismus und Gewerkschaftertum
noch mit unzähligen Beispielen aus vielen weiteren Ländern und allen Jahrzehnten dieses
Jahrhunderts bis in unsere Tage illustrieren und untermauern. Eine solche detaillierte
Untermauerung ist sicherlich notwendig, doch in diesem Vortrag ging es vor allem darum,
die theoretischen und historischen Grundlagen für solche empirischen Studien aufzuzeigen.
Die geschichtliche Rolle des sozialistischen Bewußtseins
Außerdem besteht der Hauptzweck dieses Vortrags nicht darin, so viele Beispiele für
den Verrat der Gewerkschaften wie möglich anzuführen. Unser wesentliches Thema ist, wie
in allen anderen Vorträgen dieser Woche, die historische Rolle des sozialistischen
Bewußtseins und der Kampf dafür in der Arbeiterklasse. Hierin liegt die wesentliche
Bedeutung der revolutionären marxistischen Partei. Selbst wenn es zu einer Wiedergeburt
spontaner syndikalistischer Militanz kommen sollte und eine solche Entwicklung
wäre undenkbar ohne explosive Aufstände der Basis gegen die alten bürokratischen
Organisationen so würde die Weiterentwicklung einer solchen vielversprechenden
Bewegung in revolutionären Bahnen von der eigenständigen Arbeit der marxistischen Partei
abhängen, die dafür kämpft, sozialistisches Bewußtsein in die Arbeiterklasse
hineinzutragen.
Es ist daher bezeichnend, daß all jene, die die unantastbare Autorität der
Gewerkschaften hochhalten, gleichzeitig den Kampf für den Marxismus in der Arbeiterklasse
ablehnen. Diese Position drückt sich besonders deutlich in den jüngsten Artikeln von
Cliff Slaughter aus, der jene Marxisten (d. h. das IKVI) anprangert, »die daran
festhalten, daß ihre Mission in den spontan entstehenden Kämpfen der Arbeiterklasse
darin bestehe, das Bewußtsein zu heben, politisch einzugreifen
und zu politisieren.«
Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich diesen Worten ein gerüttelt Maß
krimineller Absicht unterstelle. Wir nähern uns dem Ende eines Jahrhunderts, das die
furchtbarsten historischen Tragödien erlebt hat. Es läßt sich gar nicht ermessen, mit
wie viel Blut die Menschheit das Scheitern und den Verrat der vielen revolutionären
Kämpfe dieses Jahrhunderts bezahlt hat. Die Opfer, die die politischen Folgen dieser
verratenen Revolutionen forderten, zählen nach Hunderten Millionen. Noch in den letzten
Jahren wurden wir Zeuge der demütigenden, furchtbaren Folgen der Desorientierung der
sowjetischen Massen. Und inmitten dieser allgegenwärtigen politischen Desorientierung
beschimpft Slaughter jene, die versuchen, sie auf der Grundlage der sozialistischen
Wissenschaft zu beheben.
Den Interessen der Arbeiterklasse ist nicht gedient, wenn man zynisch ihre
Spontaneität verherrlicht d.h. das vorherrschende Bewußtseinsniveau und die
gegebenen Organisationsformen. Im Falle Slaughters und ähnlicher Ex-Marxisten dienen
solche Bekenntnisse zur Spontaneität lediglich als Deckmantel für ihre eigene
Zusammenarbeit mit den verräterischen Bürokratien in der Arbeiterbewegung. Wir sehen
keinen Anlaß, uns dafür zu entschuldigen, daß unserer Ansicht nach die Zukunft der
Arbeiterklasse von der Stärke unseres politischen Handelns und vom Erfolg unserer
Bemühungen um eine Hebung des Massenbewußtseins abhängt.
Wir stellen uns auf die Grundlagen, die von den großen Gründern und Vertretern des
wissenschaftlichen Sozialismus gelegt worden sind. Wir weisen Slaughters Aussage zurück.
Sie widerspricht den wesentlichen Prinzipien, die von den Anfangstagen der marxistischen
Bewegung an deren Existenzgrund waren. Das Proletariat ist das aktive historische Subjekt
im Kampf für die Sache des Sozialismus. Aber der Sozialismus konnte nicht direkt aus der
Arbeiterklasse heraus entstehen und tat es auch nicht. Er hat sozusagen seine eigene
geistige Entwicklungsgeschichte. Marx hat niemals behauptet, daß seine Auffassung über
die historischen Aufgaben der Arbeiterklasse mit der gerade vorherrschenden
»öffentlichen Meinung« der breiten Mehrheit der Arbeiter in einem gegebenen Moment
ihrer Entwicklung übereinstimmen würde. Es ist absurd, den Gedanken auch nur anzudeuten,
daß Marx, der größte Denker seit Aristoteles, sein ganzes Leben lediglich der
Formulierung von Ideen gewidmet habe, die lediglich wiedergeben, worauf der
Durchschnittsarbeiter wahrscheinlich auch von selbst gekommen wäre.
Im Jahr 1844 schrieb Marx: »Es handelt sich nicht darum, was dieser
oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt.
Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß
geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in
seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen
Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.«22
Wenn die spontane Entwicklung des Klassenkampfs sozialistisches Bewußtsein
hervorbringen würde, dann hätte es keinen Grund für diese internationale Schule
gegeben. Wozu bräuchte man Vorträge über Geschichte, Philosophie, politische Ökonomie,
revolutionäre Strategie und Kultur, wenn sich die Arbeiterklasse mit ihren bestehenden
Massenorganisationen und ihrem gegebenen politischen und historischen Bewußtseinsstand
automatisch zur Höhe der Aufgaben erheben könnte, die ihr von der Weltkrise des
Kapitalismus gestellt werden?
Werfen wir einen Blick auf den politischen Hintergrund, vor dem diese Schule
stattfindet. Während wir uns hier versammeln, befinden sich die Wirtschaften
Südostasiens in heftiger Unruhe. Beinahe über Nacht ist die Existenz Hunderter Millionen
Menschen in Gefahr geraten. In Indonesien ist vorgestern der Wert der Landeswährung um 22
Prozent gefallen. Im Verlauf von sechs Monaten hat die indonesische Rupie beinahe achtzig
Prozent ihres Werts eingebüßt. Der IWF fordert ein brutales Kürzungsregime, und unter
diesen Bedingungen sind gewaltige soziale Zusammenstöße unvermeidlich.
Hängt der Ausgang dieser Kämpfe jedoch nicht davon ab, daß die indonesische
Arbeiterklasse die Lehren aus ihrer eigenen Geschichte zieht, die ein weiteres
alptraumartiges Kapitel in der Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt? Muß man nicht
mit den indonesischen Arbeitern, Studenten und Intellektuellen die Ereignisse von 1965-66
durchgehen wie die größte Kommunistische Partei der Welt außerhalb der UdSSR und
Chinas, die über mehr als eine Million Mitglieder verfügte, sich angesichts von Suhartos
Staatsstreich als ohnmächtig erwies? Mehr als eine halbe Million Menschen wurden von der
Konterrevolution abgeschlachtet. In den Flüssen von Sumatra und Bali staute sich das
Wasser an den Leichen der Ermordeten. Die Hinrichtung der Gefangenen, die nach Suhartos
Staatsstreich verhaftet worden waren, zog sich bis in die neunziger Jahre hin. Doch wie
viele Fragen und Probleme blieben unbeantwortet und ungeklärt! Die strategischen Lehren
aus dieser Periode bilden die Grundlage für die notwendige historische Vergeltung der
indonesischen Arbeiter an den Verbrechen der indonesischen Bourgeoisie, die darin vom
amerikanischen und auch australischen Imperialismus unterstützt wurde.
Und dabei geht es nicht um ein Problem von Indonesien, sondern um eine welthistorische
Aufgabe. Wir beenden diese Schule daher mit derselben Aussage, mit der wir sie begannen:
Die Zukunft der Menschheit im 21. Jahrhundert hängt davon ab, daß sie die Lehren aus den
strategischen historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zieht. Und wenn ich in wenigen
Worten die wichtigste Schlußfolgerung zusammenfassen sollte, zu der wir am Ende unseres
Rückblicks auf dieses bewegte Jahrhundert gekommen sind, so lautet sie, daß das
Schicksal der Menschheit unauflöslich mit dem Kampf für sozialistisches Bewußtsein und
sozialistische Kultur in der Arbeiterklasse verknüpft ist, der wiederum im Aufbau der
Weltpartei der sozialistischen Revolution seinen wesentlichen politischen Ausdruck findet.
Anmerkungen
0 »Trade Unions in the Epoch of Neo-Liberalism» in Socialism
Today - zurück
1 Workers International Press, Nr. 1, Februar 1997, S. 21
- zurück
2 Marx Engels Werke Bd. 23, S. 86 - zurück
3 Theodore Rothstein, »From Chartism to Labourism«, London
1983, S. 183f - zurück
4 ebd. S. 195 - zurück
5 ebd. S. 273 - zurück
6 Marx Engels Werke Bd. 16, S. 197 - zurück
7 ebd. - zurück
8 ebd. S. 197f - zurück
9 Marx Engels Werke Bd. 16, S. 152 - zurück
10 ebd. - zurück
11 Marx Engels Werke Bd. 34, S. 378 - zurück
12 Marx Engels Werke Bd. 21, S. 194 - zurück
13 ebd. S. 195 - zurück
14 Marx Engels Werke Bd. 37, S. 288 - zurück
15 Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Berlin 1990, Bd. 1.1, S.
391 zur Lesart siehe Fußnote - zurück
16 Rosa Luxemburg, op. cit., Bd. 1.1, S. 481 - zurück
17 Carl E. Schorske, »Die große Spaltung, Die deutsche
Sozialdemokratie 1905-1917«, Berlin 1981, S. 64 - zurück
18 ebd. - zurück
19 Die Neue Zeit, Stuttgart 1905, 23. Jg., Bd. 2, S. 315
- zurück
20 ebd. S. 314 - zurück
21 Rosa Luxemburg, op. cit., Bd. 2, S. 174 - zurück
22 Marx Engels Werke Bd. 2, S. 38 - zurück
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